Es fühlt sich wie gestern an, als wir das letzte Mal beim Lollapalooza vor der Bühne auf den Kraftklub warteten. Wie schon 2019 ist das Lolla auch dieses Mal mit dem Closing der Festival-Saison verbunden und wie damals haben wir schon eine Show vom Vorabend in den Knochen.
MGK sorgte im Vorfeld für Bauchschmerzen
Mit Schrecken erinnere ich mich am morgen des Lolla-Samstages an den Einlass 2019, als ich gefühlte vier Kilometer weit um mein Leben rannte, weil ich fürchtete, das Fans von irgendwelchen Popsternchen es mir gleichtun würden. Nichts schlimmeres konnten wir uns vorstellen, als dass wir die Lolla-Show aus der Crowd sehen müssten, inmitten der Influencer und glitzerbestäubten Damen in floralen Mustern. Damals war das richtig unnötig, denn 1. rannte außer mir niemand und 2. war die Crowd, auch wenn sie nicht so aussah, gar nicht so schlecht.
Auch dieses Mal saß uns die Angst im Nacken, denn vor Kraftklub sollte niemand geringeres als Machine Gun Kelly auftreten, der derzeit nun nicht gerade unbeliebt ist. Ich wollte deshalb ursprünglich ganz auf die ersten Reihe verzichten und stattdessen einen gepflegten Tag mit Fresskoma in Berlin verbringen, allerdings hatte ich da die Rechnung ohne Inga gemacht, die MGK schon lange verfallen ist und sich nichts Fabelhafteres ausmalen konnte, als den unterernährten amerikanischen Hühnen von Nahem zu bestaunen. Tja, manchmal merkt man eben doch, das Inga zwei Jahre jünger ist. Aber Spaß beiseite, wir schlenderten gemütlich vor die Bühne und konnten uns schon im Vorfeld mit den wenigen, dafür aber internationalen MGK-Fans arrangieren.
Iann Dior hat eine Million Follower und wir sind ratlos
Der erste Act des Tages war Charlotte Jane, eine britische Singer-Songwriterin, deren eher tristem musikalischen Output wir wenig abgewinnen konnten. Als sie um 12 Uhr auftrat, war es extrem leer auf dem Gelände: Vielleicht 500 Besuchende streiften über das riesige Gelände, wovon sich nur ein kleiner Bruchteil vor der Bühne versammelte, um dem Auftritt zu lauschen. Das tat mir sehr leid, war aber bei dem regnerischen und kalten Wetter leider erwartbar. Wer dachte nochmal, es sei eine gute Idee, ein Festival Ende September auszurichten?
Nach Charlotte Jane war ich sehr erschöpft, sodass ich kurzerhand in der ersten Reihe im Sitzen einschlief. Um diesen Schlaf brachte mich auch nicht das Intro des nächsten Künstlers und die Menschen, die schlagartig in Scharen vor die Bühne geströmt waren. Inga und Markus hielten es auch nicht für nötig mich zu wecken, da sie offenbar der Meinung waren, dass ich meinen Schlaf brauche. Vermutlich waren sie einfach nur froh, mich mal eine Weile nicht meckern hören zu müssen – mir war kalt, ich war erschöpft und ich mochte die Musik nicht – ganz schlechte Voraussetzungen für einen entspannten Nachmittag mit mir.
Als ich plötzlich zu mir kam, stand Iann Dior bereits auf der Bühne, die immense Crowd schrie und ich war ziemlich desorientiert. Den Auftritt fand ich trotz des abrupten Weckens ganz unterhaltsam: Die Songs waren catchy, der Typ sympathisch und der Auftritt kurzweilig. Wir waren dennoch erstaunt, als unsere kurze Internetrecherche ergab, dass Iann Dior über eine Million Insta-Follower hat. Help, sind wir wirklich schon so alt, dass wir solch offenbar extrem bekannten Künstler nicht mehr kennen? Ich rede mir ein, dass es an der Genrefremdheit liegt, aber irgendwie fühle ich mich trotzdem wie ein Boomer.

Bands, die ihre Hits nicht spielen. Fragwürdig.
Im Anschluss an den Auftritt von Iann Dior überkommt mich erneut die Müdigkeit. Dieses triste, graue Herbstwetter und eine Open-Air-Veranstaltung wollen einfach nicht zusammenpassen. Zusammengekauert unter einem liebevoll geteilten Poncho nickt dieses Mal auch Inga mit ein. Der Sommer war lang und mittlerweile hinterlässt er offenkundig auch sehr sichtbare Spuren an unseren Körpern.
Ich freue mich dennoch auf den nächsten Act, denn es ist endlich jemand, den ich kenne: Paolo Nutini. Genau, die Älteren unter euch werden sich erinnern, das ist der mit „Jenny, don’t be hasty“. Long story short, diesen Song hat er nicht gespielt. Enttäuschung macht sich breit. Während Markus und ich noch voller Empörung vor uns hinmosern, wird neben uns aus einem hässlichen Herbst-Entlein ein wundervoller Schwan.
Herzen und Tränen in den Augen
Inga beginnt, die zahlreichen Schichten Kleidung abzutragen und sich mit ihrem MGK-Merch in Szene zu setzen, was mich durchaus amüsiert. Ich bin gerne Zeuge davon, wenn Menschen heftige Fan-Momente erleben, die ich jedoch nicht wirklich teile. In solchen Augenblicken erfüllt es einfach mein Herz, die Leute aufgeregt und in Vorfreude zu sehen und sie dann im Anschluss dabei beobachten zu können, wie sie einfach nur eine richtig gute Zeit haben.
Meine Zeit ist zu diesem Zeitpunkt aber nicht so gut. Eigentlich wäre ich gerade gerne vor der anderen Bühne, wo Apache207 gerade sein Set beginnt. Ich hatte schon beim Bekanntwerden des Lineups darauf gehofft, dass uns Apache vor Kraftklub vergönnt sein würde, doch es kam anders. Während wir also eine ganze Stunde Pause hatten, bekam die Nachbarbühne die volle Dröhnung Apache-Hits um die Ohren gehauen.
Mir glaubte niemand so recht meine Trauer um diesen verpassten Auftritt, bis ich dann tanzend „Roller“ mitrappte, weil glücklicherweise der Wind den Sound zu uns herüberwehte. Warum genau ausgerechnet ich eine Schwäche für den langhaarigen Ludwigshafener habe, die Story würde hier den Rahmen sprengen. Nur so viel: Aus einem gelungenen Gag kann bei mir gerne mal Ernst werden.
Eigentlich wollte ich tatsächlich MGK auslassen um mir Apache anzusehen, weil aber das Besucheraufkommen vor unserer Bühne schon in der Umbaupause rasch zunahm, sah ich aus Angst, im Anschluss nicht mehr in die erste Welle zu kommen, von einem Ausflug ab.
Nichtsdestotrotz war es ein ähnliches Vergnügen, Inga dabei zu beobachten, wie sie im Angesicht des nahenden MGK-Auftritts immer nervöser wurde. Herrlich, ihr strahlendes Gesicht, als der Dude plötzlich kiffend auf die Bühne kam und ohrenbetäubendes Geschrei die Musik übertynchte. Das Bühnenbild, eine fantastische Komposition, die aussah, als wäre sie direkt aus den Nullerjahren der Vans-Warped-Tour auf das Lolla gebeamt worden, konnte mich vor allem mit einem handförmigen Mikroständer mit inkludiertem Aschenbecher überzeugen.

Der moderne Sound der Nullerjahre ist einfach nicht der meine
Generell fand ich das Konzert imposant: Bemerkenswert, wie dieser junge Mann nahezu ohne Unterbrechung Song um Song rausballert und zwischen Rap- und Gesangsparts noch ganz nebenbei eine handvoll Zigaretten wegraucht. Meine Sympathien hat er jedenfalls gewonnen, wenngleich mir sein Ansatz, den Poppunk der goldenen Nullerjahre in einen moderneren Sound zu transferieren, stark widerstrebt.
Mein Herz japste, als er und Inga einen „Moment“ hatten und er ihr ein Plek zuwarf – ich habe vermutlich noch nie so energetisch einen Ordner angebrüllt, das im Graben liegende Plektrum einer Person neben mir zu überreichen. Gelungene Show, die mit ihrem heroinchicen Frontmann durchaus an die Rocklegenden der 80er erinnert, mir aber musikalisch leider überhaupt nichts gibt. Trotzdem Props an MGK, der macht Vieles richtig.
Nach MGK waren wir endlich alle wach und froh darüber, das Gros dieses langen Tages überstanden zu haben. Nur noch eine lange Pause, dann spielen endlich Kraftklub und wir können im Anschluss in unserem Hotelzimmer liegend Köfte essen. Gute Aussichten, die uns jedoch von AnneMareike auf der Nachbarbühne verhagelt werden sollten. Was klingt wie ein missratener, von Backlinern durchgeführter Soundcheck ist tatsächlich das Konzert dieser Band. Leider steht auch jetzt der Wind so günstig, dass wir in den vollen Genuss der seichten Klänge kommen.
Schon vor einigen Jahren hatten wir für uns beschlossen, dem Spektakel AnneMayerKannereit (wie Campino sie nennt) nicht mehr live beizuwohnen, da es schlichtweg eine recht fade Angelegenheit ist. Damals hatten wir uns auf dem Deichbrand sehr auf den Auftritt gefreut, wurden jedoch von der nüchternen Vortragsweise jäh entsetzt. Nun haben wir keine Wahl, werden zwangsbeschallt und langsam kickt auch die Müdigkeit wieder ein. Ist es etwas Schönes, an einem regnerischen Tag auf dem Sofa unter einer Kuscheldecke „Barfuß am Klavier“ zu hören, so gilt das nicht für einen Abend auf einem Festival, bei dem ein bisschen Energie und Temperament wünschenswert wären. Wir singen zur Überbrückung leicht ironisch die Songs mit und hoffen einfach, dass sie bald fertig sind.
Das Ende eines famosen Sommers
Und dann folgt die letzte wirkliche Kraftklub-Festivalshow diesen Sommer, die von Anfang an mit dem letzten, äußerst gelungenen Lolla-Auftritt von 2019 konkurrieren muss. Stellenweise bin ich geneigt zu sagen, dass sie locker mit der letzten Ausgabe mithalten kann und sie mit den neuen Songs stellenweise sogar übertrumpft. Doch dann folgt mit „I love it“ ein mehr als nur ausgelutschtes Cover mit Power Plush, das die komplette Energie der Kraftklub Show in sich verpuffen lässt wie eine Knallerbse. So ein Cover brauche ich bei einem ohnehin schon kurzen Festivalset definitiv nicht, vor allem nicht dann, wenn es kein besonders gutes ist. Auch der Gastauftritt von Lotta Brummer im Bill-Part bei „Fahr mit mir“ lässt uns eher ratlos als glücklich zurück. Schade, bei diesem Gig wäre deutlich mehr drin gewesen. Nichtsdestotrotz haben wir einen fantastischen Abend und fühlen uns regelrecht befreit, als die letzten Töne verhallen. Das Mammut von Sommer ist endlich geschafft!
Während um uns herum einige Leute tatsächlich traurig über das Ende des Festivalsommers zu sein scheinen, fühlen wir uns fantastisch. So sehr ich Festivals während der Pandemie vermisst habe, so glücklich bin ich jetzt darüber, dass es endlich wieder in Hallen geht – denn die mag ich um einiges lieber. Vermissen werde ich jedoch das Rauchen in der ersten Reihe, das sollte durchaus in diesem Beitrag noch Erwähnung finden.
Wir beenden unseren Festivaltag mit einem ausgiebigen Foodhaul, der jedoch an diesem Abend ausgesprochen fade ausfällt. Da hatte der Koch wohl einen schlechten Tag, nehme ich an? Ich würde jetzt gerne melodramatisch sagen, wir fielen zum Abschluss müde in unser Bett, doch da wir die Speisen bereits im Liegen zu uns nahmen, mussten wir nur noch die Augen schließen. Ein festlicher Abschluss für einen fantastischen Sommer.
Post Scriptum: In diesem Text kursieren verschiedene Schreibweisen für die Band KannenSeierAbendkleid, diese sind von der Autorin beabsichtigt.