Kraftklub als Bespaßungs-Act auf einer Marketing-Messe. Klingt schrecklich, war aber eigentlich ganz schön amtlich.
Ja, man könnte sich vermutlich ansprechendere Locations vorstellen für das zweite Kraftklub-Konzert nach der Pandemie, als eine beliebige Messehalle im Herzen Hamburgs. Das Publikum, bestehend aus BWL-Justussen und Influencer-Annikas malten wir uns im Vorfeld auch eher wenig rosig aus: Als ob die ganzen Werbeleute nach ihren harten Meetings an den Adobe-Ständen überhaupt noch Lust auf ein Konzert hätten. Und überhaupt, wie soll so ein Konzert denn im feinen Zwirn überhaupt die richtige Energy erhalten? Ihr seht, die Ressentiments waren groß und schienen sich zunächst auch zu bewahrheiten.
100 Jahre Vertragsarbeit, ich will immer auf Arbeit bleiben
Als wir am Nachmittag durch das absurd große Gelände schlenderten und versuchten rauszufinden, auf welcher der 47 Bühnen denn nun der Klub auftritt, gerieten wir schnell unabsichtlich in Menschentrauben. An der einen Stelle konnte man fancy 3D-Fotos von sich aufnehmen lassen, an der anderen Stelle gab es äußerst wichtig anmutende Panels zu Online Marketing. Irgendwo dazwischen schlürfte man Aperol Spritz, während sich eine große Masse schon für Ashton Kutcher und Quentin Tarantino in eine Halle zwängen wollte. All das war für uns keine Option: Denn wir hatten Holzklassen-Tickets, die uns quasi zu nichts auf diesem Gelände berechtigten. Dafür verfügten ausnahmslos alle Festivalbändchen über einen Kreditrahmen von 2.000 (kein Schreibfehler) Euro, mit denen man nach Belieben an den Ständen schmausen konnte. Das sollte alles über das Klientel aussagen, das sich vermutlich auf Nacken der Firma täglich hier ordentlich den Wanst vollfuttert.
Wir waren nicht sonderlich traurig über unsere Holzklassentickets ohne VIP-Behandlungen, waren die Tickets schließlich gratis und unser Bocklevel, einen Blick durch drei Millionen Handybildschirme auf Ashton Kutcher zu erhaschen, recht gering.
Die Hamburger Goldkehlchen, Das Bo und Roy Bianco im Vorprogramm
Unser einziges Interesse galt dem später stattfindenden Kraftklub-Konzert, das wir ohne jeglichen Zweifel aus der ersten Reihe erleben mussten. Das gestaltete sich allerdings als schwierig, denn mit unseren Ramschbändchen wurde uns zunächst der Zutritt zur Halle verweigert. Erst wenn alle Premium-Business-Platin-diesdas-superwichtig-Ticket Leute in der Halle sind und WENN dann noch Platz ist, dürften wir rein.
Blöde Situation, die wir jedoch mit einem listigen Trick hinter uns lassen konnten: Unsere schwarzen zweite Klasse Bändchen ließen sich im Nu zu weißen Premium-Bändchen machen, wenn man sie nur umdrehte. So verschafften wir uns doch noch rechtzeitig Zutritt zur Halle und brachten uns in Stellung für „Roy Bianco und die Abbrunzati Boys“, feinsten Italo-Schlager, der uns auf kurzweilige Weise gut unterhielt. Vorher mussten wir allerdings durch einen Auftritt von Das Bo, der von einer Druckluftkanone um ein Haar kastriert wurde und durch den testosteronschwangeren Chor der Hamburger Goldkehlchen, der uns äußerst befremdete. Sprechen wir nicht weiter drüber.
Die Setlist wirft weiterhin Fragen auf
Als sich die letzten Schlagerstrudel nach Roy Bianco schlossen, war es Zeit für Kraftklub. Warum nochmal tingeln wir für eine Stunde Set durch das halbe Land? Ach, stimmt, es war ja Pandemie und jetzt darf man erst recht nichts mehr auslassen. Wie sehr wir geirrt haben, stellte sich heraus, als Kraftklub auf die Bühne kamen und die gesamte Messehalle von Sekunde 1 an eine hervorragende Stimmung darbot. All die Vorurteile, all die Abneigung schon im Vorfeld: Völlig fehl am Platz.
Wir wurden Zeuge einer gar fantastischen Kraftklub-Show, die schon um einiges runder war, als die in Konstanz eine Woche zuvor. Dieses Mal fühlte es sich auch ein ganzes Stück realistischer an, endlich wieder die Lieblingsband auf einer Bühne zu sehen. Wie gut es sich anfühlt, die Songs mitzubrüllen und eine Band zu beobachten, die ihr Konzert sichtlich genießt. Unglaublich, wie sehr dieses Glücksgefühl die letzten zwei Jahre gefehlt hat.
Über die Setlist wird diesen Sommer allerdings trotzdem noch zu sprechen sein, uns brennen da einige Fragen unter den Nägeln. Ob Kraftklub wohl wissen, dass auf der „Keine Nacht für Niemand“ auch andere Songs waren, als „Chemie Chemie ya“? Ob der Band wohl bewusst ist, das Blau ein nervtötender Lückenfüller ist, der nur dann Sinn machte, als sie noch zum Wettcrowdsurfen ansetzten? OB SIE WOHL ENDLICH AUFHÖREN MIT „UNSERE FANS“ IRGENDWELCHE SETS ZU ERÖFFNEN?
Die Tage des Kitschs sind voerst gezählt
Hach, ihr seht, ich kann wieder meckern. Mein überwältigter, kitschbehafteter Herzschmerz scheint Geschichte zu sein. Trotzdem habe ich es auch in Hamburg nur schwer geschafft, mir ein Tränchen zu verdrücken. Zu groß ist die Freude darüber, die Lieblingsband endlich wieder live sehen zu können.
Eigentlich wären es jetzt nur drei Wochen bis zum nächsten Wiedersehen am NovaRock: Auch wenn das Festival an der ungarischen Grenze eine halbe Weltreise von uns entfernt ist, hat uns die Kombination aus Foo Fighters und dem Klub natürlich doch zum Kauf eines Tagestickets bewegt. Dann starb aus dem Nichts einfach der sympathischste Schlagzeuger der Welt. Damit auch meine Pläne, zum NovaRock zu fahren. Wir sehen uns also erst auf dem Gurten, lieber Klub!